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  • Agrar- & Ernährungspolitik
  • 06/2024
  • Sarah Brand , Martin Wolpold-Bosien , Dr. Anna Würth
Schwerpunkt

Gemischte Bilanz nach 20 Jahren Leitlinien zum Recht auf Nahrung

Sie haben menschenrechtsbasierte Politik und Verfassungen inspiriert. Doch Krisen, Konflikte und mangelnder politischer Wille erschweren die freiwillige Umsetzung – auch innerhalb der FAO.

Aktionstag der Right to Food and Nutrition campaign in Bangladesch. © Right to Food Bangladesh Network via USAID Flickr

Die Freiwilligen Leitlinien zum Recht auf Nahrung wurden 2004 von den Vereinten Nationen verabschiedet. Nach 20 Jahren ist es Zeit für eine Bilanz: Was wurde erreicht, wo sind die Defizite? Was bleiben Herausforderungen und welche Faktoren verhindern nach wie vor die Gewährleistung des Rechts auf Nahrung für Millionen von Menschen auf der Welt?  

Völkerrechtlich verbindlich ist das Recht auf Nahrung im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt) verankert. Der Pakt schreibt das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard fest. Dazu gehören ausreichende Ernährung sowie das Recht, vor Hunger geschützt zu sein (Artikel 11). Das Recht auf Nahrung ist damit integraler Bestandteil des Rechts auf Leben und seine Umsetzung zentral für die Ernährungssicherheit.  

Der für die Überwachung der Einhaltung des Sozialpaktes zuständige UN-Ausschuss hat in seiner Allgemeinen Bemerkung 12 (1999) das Recht auf Nahrung und die damit verbundenen Staatenpflichten erläutert: Das Recht auf Nahrung ist dann verwirklicht, wenn alle Menschen jederzeit Zugang zu angemessener Nahrung oder Mitteln zu ihrer Beschaffung haben.

Die Leitlinien als Konkretisierung des Rechts auf Nahrung

Im November 2004 beschlossen die Mitgliedstaaten der Welternährungsorganisation (FAO) die Leitlinien zum Recht auf Nahrung. Zum ersten Mal gelang es, ein zwischenstaatlich abgestimmtes, mit aktiver Beteiligung der Zivilgesellschaft erarbeitetes Dokument zu entwickeln, das sich dem „how-to“ der Umsetzung eines der im UN-Sozialpakt anerkannten Rechte widmete. Bei der Reform des UN-Welternährungsausschusses (CFS) im Jahr 2009 wurde die schrittweise Verwirklichung des Rechts auf angemessene Nahrung ausdrücklich in die Zielsetzung des CFS aufgenommen. Die Erfahrung mit der zivilgesellschaftlichen Beteiligung bei den Verhandlungen über die Leitlinien war so positiv, dass ein Partizipationsmechanismus für die Zivilgesellschaft im CFS institutionalisiert wurde. Das war ein Meilenstein für eine direkte Beteiligung von Rechteinhaber*innen in einem UN-Gremium.

Was haben die Leitlinien in Gang gesetzt?

Der menschenrechtliche Ansatz der Leitlinien rückt solche sozialen Gruppen und Gemeinschaften in den Mittelpunkt der politischen Aufmerksamkeit, die ihre Menschenrechte häufig nicht ausüben können. Dazu gehören – je nach Länderkontext – Bäuerinnen und Bauern, Landlose, indigene Völker, Nomad*innen, Fischer*innen, Binnenvertriebene und Geflüchtete, ältere Menschen, LGBTIQA+-Personen, städtische Arme, Obdachlose und andere marginalisierte Gruppen. Der menschenrechtliche Ansatz geht von Menschen als Rechteinhabenden aus und von staatlichen Behörden als Pflichtenträgern. Er setzt somit staatliches Handeln in eine Verantwortungsbeziehung zu Kämpfen um die Anerkennung und die gleiche Ausübung von Menschenrechten.

Ein Fall für die Anrainerstaaten: Der Tanganjikasee ist überfischt, doch ist seine Sardine wichtige Proteinquelle für die Anwohner und Einkommensquelle für die Fischer. © FAO/Chipema Chinyama

Ein systematisches Monitoring, ob und wie Staaten die Leitlinien nutzen oder umsetzen, gibt es nicht; sie sind ein Instrument des sogenannten soft law („weiches Recht"), ihre Anwendung durch Staaten ist freiwillig. Ob Staaten sie für sich annehmen, wird durch den UN-Sozialpaktausschuss im Rahmen der Staatenüberprüfung abgefragt sowie im Monitoringmechanismus des CFS berücksichtigt.

Auf nationaler Ebene haben die Leitlinien zu einer verbesserten rechtlichen Verankerung des Rechts auf Nahrung beigetragen. So haben derzeit 46 Staaten das Recht auf Nahrung explizit oder implizit in ihren Verfassungen anerkannt.

Beispiele zeigen, dass die Leitlinien (sowie weitere Instrumente wie der UN-Sozialpakt) menschenrechtsbasierte Politik und Programme inspiriert haben:

Brasilien: Der ersten Regierung von Präsident Lula da Silva gelang es, mit einem menschenrechtsbasierten Null-Hunger Programm und einem partizipativen Beratungs- und Koordinierungsmechanismus in Form des Nationalen Ernährungssicherheitsrates (CONSEA), Hunger und Unterernährung stark zu reduzieren. Nachdem die Regierung von Jair Bolsonaro diese Politik beendete und CONSEA auflöste, stieg die Ernährungsunsicherheit erneut massiv an.

Indien: Nach der Anerkennung des Rechts auf Nahrung als Teil des Grundrechts auf ein Leben in Würde durch den Obersten Gerichtshof verabschiedete das Parlament 2013 das Nationale Gesetz zur Ernährungssicherheit. Dieses bot insbesondere während der Covid-19-Pandemie mehreren hundert Millionen Menschen eine wichtige Unterstützung.

Deutschland: 2023 wurde ein Bürgerrat des Deutschen Bundestages zum Thema „Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben“ ausgelost, der im Februar 2024 seine Ergebnisse vorlegte. Annahme und Umsetzung der Empfehlungen obliegt nun den zuständigen Ausschüssen des Deutschen Bundestages. Auf kommunaler Ebene haben sich eine Vielzahl von Ernährungsräten gegründet, die die Transformation von Ernährungssystemen vorantreiben. So soll auch eine Demokratisierung des politischen Diskurses zu Ernährung befördert werden.

Die Leitlinien zum Recht auf Nahrung haben die Entwicklung weiterer normativer Instrumente im CFS und anderen UN-Foren gefördert, die sich implizit oder explizit auf das Recht auf Nahrung stützen und Handlungsempfehlungen für verschiedene Sektoren beinhalten, die für Ernährungssicherheit zentral sind (1). Staaten haben damit eine breite Orientierung zur Umsetzung ihrer menschenrechtlichen Verpflichtungen bezüglich des Rechts auf Nahrung; Rechteinhabende beziehen sich auch auf diese Instrumente im Rahmen ihrer Kämpfe um die Anerkennung von Rechten und die Transformation von Ernährungssystemen (2).

Was die Überwindung des Hungers hemmt

Die Vereinten Nationen schätzen, dass 2022 etwa 735 Millionen Menschen von Hunger betroffen waren – ein Anstieg von 122 Millionen Menschen im Vergleich zu vor der COVID-19 Pandemie (3). Obwohl weltweit ausreichend Lebensmittel hergestellt werden, leben nach wie vor viele Menschen in ständiger Ernährungsunsicherheit. Betroffen sind vor allem die Menschen, die keinen stabilen und gesicherten Zugang zu produktiven Ressourcen, wie Land und Saatgut haben, oder – wenn sie in Städten leben - keine ausreichenden Einkommen aus Arbeit oder Handel erzielen können. Nach wie vor räumen viele Regierungen ländlichen Regionen keine politische Priorität ein, obgleich 75 Prozent der Hungernden und Unterernährten in ländlichen Regionen leben.

Vertreter einer Landrechte-Kampagne bei einem Treffen mit Dorfbewohnern von Kwale in Kenya. © Kenya Land Alliance via FB

Bewaffnete Konflikte bleiben ein wesentlicher Treiber von Hunger: Im März 2024 schätzten das Welternährungsprogramm und andere UN-Institutionen, dass im Gazastreifen etwa 1,1 Millionen Menschen, die Hälfte der Bevölkerung, von Hunger bedroht sind. Außerdem sei die gesamte Bevölkerung Gazas in hohem Maße von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen. Im Sudan sollen 17,7 Millionen Menschen in hohem Maße von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen sein. Im Jemen litten allein in den von der Regierung kontrollierten Gebieten 4,5 Millionen Menschen unter hoher akuter Ernährungsunsicherheit. Die Zerstörung von landwirtschaftlichen Flächen und Infrastruktur, der teilweise oder vollständige Zusammenbruch von Nahrungsmittelproduktion und Handel sowie Blockaden von humanitärer Hilfe und der Einsatz von Hunger als Waffe führen zu massiven Verletzungen des Menschenrechts auf Nahrung. Die Frage, wie das Recht auf Nahrung in bewaffneten Konflikten effektiver geschützt und durchgesetzt werden kann, bleibt damit eine der drängendsten Fragen unserer Zeit.

Die sogenannte dreifache planetarische Krise, also der Klimawandel, der Verlust der biologischen Vielfalt sowie die Wüstenbildung ist ein weiteres -  ungelöstes und dringliches – Problem, das zum Zeitpunkt der Abfassung der Leitlinien vor 20 Jahren noch nicht im gleichen Maße die Agenda bestimmt hat: Wie können Staaten und die internationale Gemeinschaft die Ernährungssysteme so transformieren, dass sich alle Menschen angemessen ernähren können und gleichzeitig effektive Maßnahmen gegen die dreifache planetarische Krise treffen?

Auch aufgrund der wachsenden Ungleichheit innerhalb und zwischen Ländern stößt eine reine marktgetriebene Produktionssteigerung zur Umsetzung des Rechts auf Nahrung immer wieder an ihre Grenzen; Ungerechtigkeit in der Verteilung kann nicht mit einem mehr an Gütern gelöst werden. Dies ist besonders deutlich auch in vielen Ländern des Globalen Nordens. Als Folge wachsender Ungleichheit, die nicht in ausreichendem Maße durch sozialpolitische Maßnahmen aufgefangen wird, steigen Unterernährung und Fettleibigkeit gleichzeitig an, wie eine vergleichende Studie der renommierten medizinischen Fachzeitschrift Lancet im Februar 2024 zeigte. Auch in Deutschland ist diese Frage unter dem Stichwort armutsbedingte Fehlernährung virulent und wird vor allem im Kontext der Regelsätze des Bürgergelds diskutiert (4).

Darüber hinaus erschweren weitere Probleme die Verwirklichung des Rechts auf Nahrung, darunter systemische Diskriminierung von Frauen oder Minderheiten; Konzentration von Land und natürlichen Ressourcen in den Händen einiger weniger; Marktmachtkonzentration in Ernährungssystemen; Auslandsschulden und die Abhängigkeit vieler Länder von Nahrungsmittelimporten.

Politiklösungen müssen sich an Menschenrechten ausrichten

Diese Fragen brauchen Politiklösungen, die klar auf Menschenrechte ausgerichtet sind und die jeweilige lokale, nationale und internationale Ebene verbinden. Nicht zuletzt müssen partizipative Prozesse der Entscheidungsfindung verstärkt werden und so zu einer Demokratisierung der Ernährungspolitik beitragen.

Das seit vielen Jahren bestehende Auseinanderklaffen von Reden und Handeln entscheidender Akteure wie der FAO und der Welthandelsorganisation (WTO) muss überwunden werden. Obgleich die FAO die Leitlinien selbst verabschiedet hat, misst sie dem Recht auf Nahrung in ihrem strategischen Rahmen 2022-2031 keine relevante Bedeutung zu. Schon 2018 beobachtete Carolin Anthes eine rückläufige Unterstützung für das Recht auf Nahrung innerhalb der FAO (5). Für den Welternährungstag im Oktober 2024 wählte die FAO das Motto „right to foods“. Dies stellt eine Abkehr von der im internationalen Recht und politischen Diskurs etablierten Sprache zum Recht auf Nahrung dar und verfälscht auch dessen Inhalt, indem das Recht auf Nahrung auf ein Recht auf Lebensmittel verkürzt wird.

Mit Blick auf die WTO ist festzuhalten, dass die Verhandlungen dort nicht vorangekommen sind, so dass beim Handel mit Agrarprodukten – sei es Getreide oder Düngemittel – die Auswirkungen der Volatilität der Preise auf Produzent*innen und Verbraucher*innen verlagert werden. Wie der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung 2022 prägnant zusammenfasste, wird weder die WTO durch eine kohärente internationale Ernährungspolitik angeleitet noch bearbeitet die FAO handelspolitische Fragen (6).

Menschenrechte müssen von Menschen gegen Widerstände errungen werden. Das gilt auch für das Recht auf Nahrung und alles, was für ein Leben in Würde damit verbunden ist. Vielfältige soziale Bewegungen in vielen Ländern der Welt haben in den letzten Jahren mutig gezeigt, wie das gehen kann. Die beschriebenen Soft law- Instrumente sowie die Staatenverpflichtungen unter Artikel 11 des Sozialpaktes sind dafür wichtige Advocacy-Instrumente.

Sarah Brand Deutsches Institut für Menschenrechte
Martin Wolpold-Bosien Deutsches Institut für Menschenrechte
Dr. Anna Würth Deutsches Institut für Menschenrechte (DIMR), Berlin

Sarah Brand und Martin Wolpold-Bosien sind wissenschaftliche Mitarbeiter beim DIMR und arbeiten zum Recht auf Nahrung, Anna Würth leitet die internationale Abteilung.

Fußnoten

1) Beispiele dafür aus dem CFS sind die Freiwilligen Leitlinien für eine verantwortungsvolle Verwaltung von Land-, Fischerei- und Waldbesitz (VGGT) und weitere CFS-Instrumente zu Wasser, sozialer Sicherung, Gleichstellung der Geschlechter sowie zu Konflikten und anhaltenden Krisen.

2) Ein Beispiel dafür ist die Erklärung über die Rechte von Kleinbauern und -bäuerinnen und anderen Menschen, die in ländlichen Regionen arbeiten (UNDROP). Als autoritative Auslegungen von Paktbestimmungen ist zum Beispiel die Allgemeine Bemerkung Nr. 26 (2022) über Land des UN-Sozialpaktausschusses herauszuheben.

3) FAO, IFAD, UNICEF, WFP, WHO (2023) The State of Food Security and Nutrition in the World 2023. Urbanization, agrifood systems transformation and healthy diets across the rural–urban continuum. Rom, FAO. doi.org/10.4060/cc3017en, S. 6. Eine Aufarbeitung der Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf das Recht auf Nahrung wurde vom UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung 2023 vorgelegt: www.ohchr.org/en/documents/thematic-reports/a78202-interim-report-special-rapporteur-right-food

4) Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste (2022): Kosten einer Ernährung nach den Empfehlungen der DGE. WD 5 - 3000 - 143/22

5) blog.prif.org/2018/11/21/mainstreaming-the-human-right-to-food-within-the-fao/  https://www.researchgate.net/publication/351521074_The_rise_and_fall_of_the_New_Alliance_for_Food_Security_and_Nutrition_a_tale_of_two_discourses

6) https://www.ohchr.org/sites/default/files/2022-05/joint-statement-wto-imf-wfp.pdf

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