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  • Wirtschaft & Menschenrechte
  • 06/2024
  • Andrea Sonntag
Schwerpunkt

Das Recht auf Nahrung vor Ort: Wie Menschen Regierungen in die Pflicht nehmen

Teilhabe an öffentlichen Programmen und Beschwerdekanälen darf nicht vom guten Willen der Regierenden abhängen – vor allem für ausgegrenzte Gruppen.

In einer Grundschule in Malawi bereiten Mütter das Schulessen zu. © Welthungerhilfe

Die durch Kriege und sich gegenseitig verstärkende Krisen dramatisch steigenden Hungerzahlen verstellen häufig den Blick auf eine zentrale Ursache des Hungers: die Vernachlässigung der ländlichen Räume. Wie die Bevölkerung dort Einfluss auf Politikentscheidungen nehmen und Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen einfordern kann, zeigt ein Programm, das die Welthungerhilfe zusammen mit Partnerorganisationen in Kenia, Malawi, Burkina Faso und Indien umsetzt.

Das Recht auf Nahrung ist ein grundlegendes Menschenrecht zu dessen Umsetzung sich mehr als 170 Staaten mit ihrem Beitritt zum UN-Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte verpflichtet haben. Dass es sogar in der Verfassung von Malawi verankert ist, wusste Ibrahim Ali, ein Kleinbauer aus dem Bezirk Mangochi im Süden des Landes, lange nicht. Er wusste auch nicht, dass sein Staat sich damit verpflichtet hat, die ihm verfügbaren Ressourcen dafür einzusetzen, dass alle Menschen im Land – auch in den entlegenen Regionen – Zugang zu ausreichenden und gesunden Nahrungsmitteln haben. Der Staat muss also Bedingungen schaffen, damit Menschen entweder Nahrungsmittel selbst anbauen können, oder über ein ausreichendes Einkommen verfügen, sich eine gesunde Ernährung zu leisten. Wenn Menschen unverschuldet nicht über diese Mittel verfügen, ist der Staat am Zug, sie zu unterstützen.

Die Bedingungen, unter denen Ibrahim Ali Landwirtschaft betreibt, sind schwierig. Sein Dorf ist nur auf einer vierstündigen Fahrt über eine sandige Piste von der Bezirkshauptstadt Mangochi zu erreichen. In der Regenzeit ist die Brücke, die zu seinem Dorf führt, meist wochenlang unpassierbar. Kinder erreichen ihre Schule nicht und Schwangere nicht das Krankenhaus. Aber auch der landwirtschaftliche Berater der Distriktregierung schafft es nur selten, in Ibrahims Dorf zu kommen. Dabei wäre Beratung dringend nötig. Die Böden auf den kleinen Flächen, welche die Kleinbauernfamilien in Mangochi bewirtschaften, sind zunehmend ausgelaugt, ihre Ernten  durch Dürre und Starkregen bedroht.

Schon bevor Zyklon Freddy 2023 Ibrahims Ernte vollständig davongespült hat – und damit auch das Saatgut für das kommende Jahr –, verfügte der Landwirt nicht über genügend Kapital für Saatgut und Dünger. An Maschinen und Bewässerungssysteme ist gar nicht zu denken. Der starke Preisanstieg für Benzin, Dünger und Nahrungsmittel infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hat seine Situation weiter verschlechtert. Die malawische Regierung hat ein Programm aufgelegt, mit dem sie Kleinbauern wie Ibrahim Ali unterstützt. Fünf Kilogramm subventioniertes Maissaatgut und 100 Kilogramm Dünger steht ihnen daraus zu. Allerdings zeigt sich, dass diese Unterstützung nicht immer diejenigen erreicht, die sie am dringendsten benötigen. Oder das Saatgut kommt zu spät, um es noch rechtzeitig ausbringen zu können.

Auch in Kenia ist Naomi Amwayi aus dem Bezirk Vihiga, nördlich des am Viktoriasee gelegenen Kisumo, auf staatliche Unterstützung angewiesen (1). Die Mutter von sechs Kindern kann durch eine Behinderung kaum arbeiten.  Menschen mit schweren Behinderungen, Waisen und Senior*innen können eine monatliche Sozialhilfe von 2000 Shilling (14 Euro) beantragen. Der Betrag wurde seit 2013 trotz der hohen Teuerungsraten nicht mehr angepasst. Wohl kann er nur einen Bruchteil der Lebenshaltungskosten abdecken, doch ist er für die Betroffenen unverzichtbar. Obwohl Naomi seit 2014 für das Sozialhilfeprogramm registriert war, hatte sie bis 2020 nie eine Zahlung erhalten. Der staatliche Apparat war für sie eine Blackbox. Sie wusste schlicht nicht, an wen sie sich wenden sollte, um die ihr zustehende Unterstützung einzufordern.

Um Menschen wie Ibrahim oder Naomi Zugänge zu öffentlichen Diensten zu eröffnen, hat die Welthungerhilfe zusammen mit ihren Partnern in Kenia, Malawi, Burkina Faso und Indien ein Programm gestartet, bei dem es um die Verbesserung der Regierungsführung im ländlichen Raum geht. Ausgegrenzte Gruppen, zu denen Frauen, Kinder, Jugendliche, Menschen mit Behinderungen und Kleinbauernfamilien gehören, sollen ihr Menschenrecht auf angemessene Nahrung wahrnehmen können. Das ist das Ziel. Aber was heißt das konkret?

Naomi hat erst durch die Aufklärungsarbeit der Teams von Rural Outreach Africa (ROA) und The Institute for Social Accountability (TISA) erfahren, dass eine ausreichende und ausgewogene Ernährung ein Menschenrecht ist und kein Privileg einiger Weniger. Sie ist eine der besonders engagierten Dorfbewohner*innen, die nun als ‚Botschafter*in' für das Recht auf Nahrung einsteht, und hat eine Gruppe von Menschen mit Behinderungen gegründet, die sich gemeinsam für ihre Anliegen einsetzen.

ROA und TISA stehen der Gruppe zur Seite, um die staatlichen Programme, wie etwa das Soziale Sicherungsprogramm, mit Hilfe einer sogenannten Community Score Card zu bewerten. Wissen die Dorfbewohner*innen, wer anspruchsberechtig ist und wie sie sich für das Programm anmelden können? Erhalten sie ihre Zahlungen? Wie regelmäßig? Kennen sie Ansprechpartner für Fragen und Probleme? Werden sie von der zuständigen Stelle angehört, und wird eine Lösung angeboten?

Im Gespräch mit Mitarbeitenden der Bezirksverwaltung in Kirchen oder Gemeindesälen wird diese Bewertung präsentiert und die Probleme benannt. Einige lassen sich zügig beheben, andere müssen bei der zuständigen Stelle beharrlich wieder vorgebracht werden. Auch dabei unterstützt das Team. Im Fall von Naomi Amwayi nahm die Verwaltung schließlich Ermittlungen auf und entließ einen Mitarbeiter: Er hatte die Transferleistungen für sie und andere Betroffene jahrelang unterschlagen.

Skepsis überwinden

Es war ein Erfolg für das Team und eine Bestätigung für die Betroffenen, dass es sich lohnt, die Stimme zu erheben, damit Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden. Nicht immer verläuft es so positiv. Häufig schrecken Menschen, die ohnehin schon ausgegrenzt sind,  zunächst davor zurück, sich bei staatlichen Stellen zu beschweren, weil sie befürchten, noch stärker benachteiligt zu werden. Auch die lokale Regierung war gerade zu Beginn des Programms zurückhaltend und hielt Informationen zurück. Sowohl den Partnern vor Ort wie auch der Welthungerhilfe begegnete sie mit Skepsis, denn bisher kannte man eine Zusammenarbeit vor allem im Landwirtschaftsbereich. Partner aus der Zivilgesellschaft und Dorfgemeinschaften dabei zu unterstützen, mehr Transparenz und Rechenschaft von ihrer Regierung einzufordern, war eine neue Rolle.

Schließlich haben die Bezirksregierung und -verwaltung von Vihiga jedoch erkannt, dass eine solche Zusammenarbeit zur Verbesserung öffentlicher Dienstleistungen beiträgt – und damit auch zur Zufriedenheit der Bevölkerung.

Auch in Malawis Bezirk Mangochi, der etwa eine Million Einwohner zählt, hat die Regierung die Welthungerhilfe und ihre Partner vor Ort gebeten, sie bei der Einrichtung eines Beschwerdemechanismus zu unterstützen. In Ibrahim Alis Dorf konnten die Kleinbauernfamilien darüber erreichen, dass die Listen der Empfänger von vergünstigtem Saatgut und Dünger jetzt einsehbar sind – und dass beides rechtzeitig für die Aussaat geliefert wurde.

„Der Community Score Card-Prozess hilft uns im Landwirtschaftsamt und in der Bezirksregierung, die wirklichen Herausforderungen der Gemeinden zu erkennen und unsere landwirtschaftlichen Dienstleistungen zu verbessern", bestätigt der zuständige Bezirksbeauftragte, Owen Kumwenda, den Nutzen des Austauschs mit den Dorfgemeinschaften über die staatlichen Programme.  

Die Dorfgemeinschaft hat sich auch erfolgreich dafür eingesetzt, dass der Bezirk die Zahl der landwirtschaftlichen Berater erhöht. Gemeinsam mit ihnen fanden die Bauern und Bäuerinnen in Feldversuchen heraus, dass sie ihre Erträge steigern können, wenn sie den Mineraldünger mit Tierdung, Maiskleie und Asche strecken. Das tut dem Geldbeutel gut; und die Reduzierung von synthetischem Dünger schont die Böden und das Klima.

Eine Landschaft in der Region Mangochi in Malawi, einem der ärmsten Länder der Welt. © Pilar/Welthungerhilfe

Abhängig vom guten Willen?

Damit solche Erfolge von Dauer sind, darf die Möglichkeit der Einflussnahme darauf, wie die Regierung öffentliche Gelder investiert und transparent Rechenschaft darüber ablegt, nicht vom guten Willen der jeweiligen Regierungsvertreter*innen abhängen. Es gilt, Mechanismen der politischen Teilhabe zu institutionalisieren und gerade auch in Reichweite von ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen zu bringen. Bürger*innen, müssen die Möglichkeit haben, sich zu beschweren und Abhilfe einzufordern, wenn sie von staatlichen Leistungen ausgeschlossen werden, für die sie anspruchsberechtigt sind.

Um solche Veränderungen durchzusetzen und sie in der Bevölkerung bekannt und damit nutzbar zu machen, braucht es eine starke Zivilgesellschaft. Daher unterstützt die Welthungerhilfe zivilgesellschaftliche Akteure, sich zu vernetzen und ihre Kräfte in der Aufklärungs-, Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit zu bündeln.

Im dicht besiedelten Bezirk Vihiga im westlichen Kenia hat das zivilgesellschaftliche Lake Region Food Systems Network die Menschen in den Dörfern darüber informiert, wie sie sich an der Entwicklungsplanung des Distrikts beteiligen können. Sie wurden auch dabei unterstützt, in dem Bezirk von mehr als 500.000 Einwohnern den dringendsten Handlungsbedarf zusammenzutragen und in einer öffentlichen Anhörung einzubringen. So ist es gelungen, Mittel für Klimaanpassungsmaßnahmen, Verbesserungen beim Sozialen Sicherungsprogramm und die institutionelle Verankerung des Beschwerdemechanismus in den Entwicklungsplan des Bezirks aufzunehmen. Nun wird das Netzwerk ein Auge darauf haben, dass die geplanten Mittel auch in die Umsetzung dieser Vorhaben investiert werden.

Right to Food Coalitions

„Der Wandel beginnt an der Basis", betont Sheila Lyona von TISA. "Aber auch auf nationaler Ebene sind Maßnahmen erforderlich.“ Dort wird überwiegend über die Ausgestaltung von staatlichen Programmen entschieden. Wie in Malawi ist das Recht auf angemessene Ernährung auch in der Verfassung Kenias festgeschrieben. Damit Menschen dieses Recht jedoch wahrnehmen können, muss es in Gesetzen, Politiken, Institutionen und Programmen verankert und präzisiert werden.

Um hier schlagkräftiger zu werden, haben sich zivilgesellschaftliche Partner in beiden Ländern zu Right to Food Coalitions zusammengeschlossen. Sie setzen sich zum Beispiel dafür ein, dass die Regierungen ihrem Versprechen nachkommen, mindestens zehn Prozent ihrer Haushaltsmittel in die Landwirtschaft zu investieren – und dass vor allem die Bedingungen für Kleinbauernfamilien verbessert werden. Als die Preise für Lebensmittel im Zuge des Ukrainekriegs und hoher Energie- und Düngemittelpreise auf Rekordniveau stiegen, trug die Right to Food Coalition in Kenya mit Bürgerprotesten und Medienarbeit dazu bei, dass die Regierung ein Sofortprogramm für vergünstigtes Maismehl, das wichtigste Grundnahrungsmittel, auflegte.

Mittel- und langfristig muss das Ziel aber sein, dass hunger- und armutsgefährdete Menschen einen Rechtsanspruch auf staatliche Unterstützung bekommen. Landwirtschafts-, Sozial-, Gesundheits- und Ernährungspolitiken müssen so gestaltet werden, dass alle Menschen sich gesund ernähren können. Dafür nutzt das Netzwerk auch internationale Instrumente wie das Prüfverfahren des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen, in dem die Menschenrechtslage in jedem Mitgliedsland regelmäßig untersucht wird. Die Right to Food Coalition wird für Kenia einen Bericht darüber vorlegen, wo sie Handlungsbedarf bei der Umsetzung des Rechts auf Nahrung sieht.

Von den Empfehlungen des UN-Menschenrechtsrats erhofft sich das Netzwerk wichtige Punkte, auf die es in der Arbeit mit politischen Entscheidungsträgern und der Öffentlichkeit vor Ort Bezug nehmen kann. „Es liegt in unserer Verantwortung, unsere Regierung zur Rechenschaft zu ziehen“, sagt Mary Karanu, die die Arbeit des Netzwerks in Kenia koordiniert. „Advocacy-Arbeit ist ein Marathon. Es braucht einen langen Atem.“

Porträt: Andrea Sonntag, Team Politik und Außenbeziehungen.
Andrea Sonntag Policy and External Relations

Andrea Sonntag arbeitet in der Politikabteilung der Welthungerhilfe und koordiniert das Programm „Strengthening Rural Governance for the Right to adequate Food“

Fußnote:

(1) Kenia ist seit 2013 ein dezentral aufgebautes und verwaltetes Land, das in 47 Gebietskörperschaften gegliedert ist: Die „counties“ oder Bezirke können mit Landkreisen verglichen werden  und  verfügen über eigene Bezirks-Gouverneure und Regierungen, Bezirksparlamente und eine Bezirksverwaltung.

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