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  • Wirtschaft & Menschenrechte
  • 06/2024
Schwerpunkt

„Ernährungssicherheit ist kein kontroverses, sondern ein verbindendes Thema“

In Bolivien beobachtet Maria-Teresa Nogales, Leiterin der Fundacion Alternativas, wichtige Fortschritte beim Recht auf Nahrung – sieht aber noch einen langen Weg.

Landrätinnen und Bürgermeisterinnen der Region La Paz bei einem Workshop über die Zuteilung von Haushaltsmitteln für besseren Zugang zu Nahrung. © Fundacion Alternativas via FB

Welternährung: Frau Nogales, wie steht es in Bolivien um das Recht auf Nahrung?

Maria-Teresa Nogales: Bolivien war eines der ersten Länder, das 2009 das Recht auf Nahrung in seiner Verfassung anerkannt hat. Daher verfügen wir heute über einen sehr soliden Rechtsrahmen, insbesondere auf nationaler Ebene. In dieser Hinsicht hat Bolivien seine Hausaufgaben gemacht.

Zur Person

Maria-Teresa Nogales ist Leiterin der Fundacion Alternativas, einer Organisation, die Lobbyarbeit bei Entscheidungsträgern betreibt, um die Ernährungssysteme in dem zwei Millionen Einwohner zählenden Ballungsraum von La Paz widerstandsfähiger und nachhaltiger zu machen. Sie begann mit einem Runden Tisch für Politiker, Ernährungswissenschaftler, Architekten und Verbraucher; aus der Kooperation mit der Welthungerhilfe entstand das Konzept der Multi-Actor-Plattformen (MAP), die weitere Akteure aus der Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Regierung und Wissenschaft aufnahmen.

Vergleicht man jedoch die Rechtslage mit der Realität, so stellt man fest, dass wir von der Verwirklichung des Rechts auf Nahrung noch weit entfernt sind. Das zeigt ein Blick auf die landesweiten Daten: Etwa 20 Prozent der Bevölkerung leben immer noch mit Hunger, und umgekehrt sind bereits etwa 43 Prozent der Bevölkerung übergewichtig oder fettleibig. Mit anderen Worten: Mehr als 60 Prozent der Bevölkerung ernährt sich nicht so, wie es der Ernährungssicherheit oder einem gesunden und nachhaltigen Leben förderlich wäre. Es ist noch ein langer Weg bis zur Verwirklichung des Rechts auf Nahrung.

Was sind die Schlüsselelemente Ihrer Arbeit und Projekte zum Recht auf Nahrung?

Wir fördern ernährungspolitische Arbeit und urbane Landwirtschaft. Gemeinsam mit verschiedenen Akteuren des Ernährungssystems entwickeln wir politische Empfehlungen, damit alle Menschen Zugang zu gesunden und nahrhaften Lebensmitteln bekommen. In der Metropolregion von La Paz – sie besteht aus acht Gemeinden, von denen sechs noch überwiegend ländlich geprägt sind – ist es interessanterweise für viele Bauern und Bäuerinnen sehr schwierig, in den städtischen Märkten Fuß zu fassen; deshalb versuchen wir, ihre landwirtschaftlichen Praktiken zu verbessern, damit sie besser und mehr produzieren, und wir bemühen uns um Zugänge zu den städtischen Marktchancen.

Wir haben auch festgestellt, dass es eine große Kluft zwischen Verbrauchern und Landwirten gibt. Viele Menschen wissen nicht, woher ihre Lebensmittel kommen und wie sie produziert werden. Zu oft nehmen sie Lebensmittel als selbstverständlich hin. Daher arbeiten wir auch an der Förderung des Agrotourismus, um den Verbrauchern zu vermitteln, wie wichtig die Unterstützung lokaler Landwirte ist. Außerdem haben wir vor zehn Jahren einen verlassenen Park in La Paz in den ersten gemeinschaftlichen Lebensmittelgarten umgewandelt, in dem 40 Familien Bioanbau betreiben: Das Beispiel hat zur Gründung von mehr als einem Dutzend neuer Lebensmittelgärten in der Stadt inspiriert. Unser Garten ist ein offenes Klassenzimmer geworden, in dem wir bereits mehr als 25.000 Menschen zu Fragen der Nachhaltigkeit geschult haben, zum Klimawandel, zu Lebensmittelsicherheit oder der Umgestaltung von Ernährungssystemen.

Sie haben auch Multi-Aktor-Foren und kommunale Ausschüsse gegründet. Wie funktionieren diese Runden?

Es geht darum, unterschiedliche Perspektiven zusammenzubringen. Das sind z.B. Landwirte, Verbraucher, Politiker und andere Entscheidungsträger, Lebensmittelunternehmer, Akademiker. Wir analysieren regelmäßig, was in unserer Ernährungslandschaft passiert, was gut funktioniert und was verbessert werden kann. Dann entwickeln wir politische Vorschläge für die Gesetzgeber und teilen sie mit den lokalen Beamten und der Öffentlichkeit. Wir konzipieren auch Kommunikationskampagnen, um die Bürger*innen dazu zu bewegen, sich aktiv für das Recht auf Nahrung einzusetzen und ihnen dabei zu helfen, bestimmte Verhaltensweisen zu ändern.

Wie schaffen Sie Konsens zwischen so vielen verschiedenen Akteuren?

Nogales: Aus unserer Forschung haben wir Erkenntnisse über unser Lebensmittelsystem gewonnen, die uns helfen, andere zu überzeugen. Unsere Ausschüsse arbeiten auf Gemeindeebene, daher sind unsere unmittelbaren Zielgruppen die Kommunalverwaltungen. Ich habe mich im Laufe der Jahre mit vielen Bürgermeister*innen unterhalten und ihnen gesagt: 'Das ist die Lage. Ernährungsunsicherheit ist ein wirtschaftliches, soziales, gesundheitliches und ökologisches Problem.' Dann haben wir Gouverneure, Minister, andere Entscheidungsträger, Behörden und die Medien besucht.

Haben sie zugehört?

Wenn wir uns mit Evidenz aus Untersuchungen an die gewählten Vertreter wenden, zeigen sich die meisten von ihnen überrascht. Sie haben in der Regel keine Ahnung, was vor Ort passiert, und sind sich der Probleme oft nicht bewusst. Alle begrüßen die Vorschläge unserer Interessengruppen, da sie gewöhnlich nicht über das nötige Fachwissen verfügen, um Probleme rund um Ernährungsunsicherheit anzugehen und zu lösen. So bieten wir ihnen die Möglichkeit, die Anliegen der Bürger zu erfahren und gemeinsam an Lösungen zu arbeiten.

Glauben Sie, dass der politische Wille zur Lösung der Ernährungsunsicherheit vorhanden ist?

Ja. Nach unserer Erfahrung ist es aber hilfreich, wenn man nicht nur ein Problem aufzeigt, sondern auch Lösungswege. So lassen sich Politiker und Entscheidungsträger besser einbinden. Wir haben festgestellt, dass Ernährungs(un)sicherheit eigentlich kein kontroverses, sondern ein verbindendes Thema ist. Jeder versteht doch, dass alle Menschen täglich essen müssen, um zu überleben. Offen gesagt, war es nicht so schwer, lokale Behörden zu engagieren, um etwas so Wichtiges wie das Recht auf Nahrung einzulösen oder zu unterstützen.

Wo haben Ihre Arbeit und die Ausschüsse etwas bewirkt?

Die Ausschüsse haben in Bolivien die ersten Gesetze für Städte und Gemeinden zur Ernährungssicherheit und zur städtischen Landwirtschaft vereinbart. Sie ergänzen die schon sehr solide nationale Gesetzgebung und sind sehr wichtige Instrumente für die Aufsicht und die Lobbyarbeit.

Viele unserer Vorschläge zur Ernährungspolitik haben auch Eingang in die Regierungspolitik gefunden. So begann Bolivien 2017 mit der Ausarbeitung seiner Agenda für die Urbanisierung, da bis 2030 voraussichtlich 80 Prozent der Bevölkerung in städtischen Gebieten leben werden. Im selben Jahr trafen wir uns mit dem Minister für Planung und städtische Angelegenheiten und stellten unsere Agenda für Ernährungssicherheit vor. Dabei stellten wir fest, dass Ernährungssysteme in den ursprünglichen Planungen nicht vorkamen. Heute sind Ernährungssicherheit und Ernährungssysteme Querschnittsthemen in der nationalen Agenda und vielen anderen Regierungsdokumenten.

Wie Sie bereits sagten, ist die Ernährungssicherheit in Bolivien alles andere als zufriedenstellend. Denken Sie, der private Sektor müsste mehr tun?

Jeder muss sich anstrengen, weil es ein wirkliches Problem ist. Zum Glück konnten wir in Bolivien diese Debatte anstoßen. Immer mehr Menschen werden sich des Problems bewusst und sagen: 'Ich muss einen Beitrag leisten.' Der private Sektor muss definitiv mehr tun, aber auch die Regierung. Die Welt der Wissenschaft muss mehr tun, die Medien, und auch die Bürger selbst müssen mehr tun.

Die Umweltzerstörung wirkt sich sehr negativ auf die Geschäftsmodelle der industriellen Landwirtschaft und der Lebensmittelindustrie aus. Sie führt zu zusätzlichen Kosten und wirft die Frage nach der langfristigen Tragfähigkeit ihrer Branche auf. Über unsere ernährungspolitischen Ausschüsse haben wir die Industrie- und Handelskammern aufgefordert, in Fragen des Umweltschutzes und der Verringerung der Belastung zusammenzuarbeiten. Dadurch haben wir nun einen gemeinsamen Raum, in dem wir unsere jeweiligen Anliegen in Bezug auf Lebensmittelsicherheit, öffentliche Gesundheit und die Umwelt ansprechen und zum Ausdruck bringen können.

Geben Sie Ihre Erfahrungen international weiter?

Die Fundación Alternativas hat an vielen internationalen Konferenzen und Foren teilgenommen, und wir geben weiter, was sich an Vorgehensweisen bewährt hat. Unser Vorgehen ist einfach zu übernehmen, kosteneffizient und skalierbar. Wir haben praktische Modelle zur Förderung der städtischen Landwirtschaft und zur Unterstützung von bäuerlichen Familienbetrieben eingeführt und replizierbare Methoden für unsere Multistakeholder-Dialoge und die ernährungspolitische Arbeit entwickelt. Als Organisation haben wir viel Mühe und Ressourcen in den Aufbau einer Online-Bibliothek investiert. Jeder auf der ganzen Welt kann unsere Forschungsarbeiten und politischen Vorschläge, unsere Arbeitsbücher, Unterrichtsmaterialien und Handbücher einsehen.

Eine Versammlung von Gemüseproduzenten aus verschiedenen Gemeinden in Carreras. © Fundacion Alternativas via FB

Wird international genug getan, um das Recht auf Nahrung zu fördern? Gibt es genug politischen Willen für Veränderungen?

Ich glaube leider nicht, dass es auf höchster Ebene ausreichend politischen Willen gibt. Auf lokaler Ebene gibt es viel, was man als sozialen Willen oder gesellschaftlichen Willen bezeichnen könnte. Aber je höher in der Hierarchie, desto mehr kommen andere Prioritäten ins Spiel – selbst innerhalb der Vereinten Nationen. Vergangenes Jahr war ich auf einer Konferenz über nachhaltige Ernährungssysteme in Vietnam. Ich war schockiert, dass vielleicht sechs verschiedene UN-Organisationen bemüht waren, endlich einen Konsens über Definitionen zu erreichen. Wir schreiben das Jahr 2023, und man einigt sich gerade auf eine Definition? Ich denke, das Zeitalter der Definitionen haben wir hinter uns. Die UNO sollte eigentlich einen konsolidierten akzeptierten Ansatz haben, der von diesen Organisationen umgesetzt wird.

Was wäre Ihr Appell an die UN, das Recht auf Nahrung besser umzusetzen?

Schauen Sie sich einfach die Daten an! Ich würde sagen, es ist Zeit für eine Abrechnung. Sowohl die Zahl der Menschen, die immer noch hungrig zu Bett gehen, als auch die Zahl der Menschen, die übergewichtig oder fettleibig sind – beide sind inakzeptabel. In unserer Welt wird der Klimawandel Auswirkungen haben, die über die schlimmsten vorstellbaren Szenarien hinausgehen. Was bedeutet das für das Erreichen der Ziele für nachhaltige Entwicklung? Was bedeutet das für das tägliche Leben der Menschen? Internationale Organisationen kommen oft über die großen Zahlen nicht hinaus. Wir haben es aber mit einzelnen Menschen zu tun, die sich durch den Alltag schlagen.

Andererseits, wenn die Zivilgesellschaft, die Wissenschaft und die Bürger nicht genug Lärm machen, dann gibt es wohl keinen Grund für unsere gewählten Vertreter, etwas zu uternehmen. Wir müssen unsere Befürchtungen äußern und uns dabei nicht nur auf das Problem konzentrieren, sondern auch Lösungen anbieten. Sobald man Lösungen vorschlägt, sagen auch Leute, die Millionen anderer Dinge auf ihrer Agenda haben, plötzlich: 'Ich bin dafür offen.' Das ist eine der Möglichkeiten, mit denen wir die Debatte in Bolivien verändert haben. Es kommt grundlegend auf das Geben und Nehmen an.

Das Gespräch führten Erwin Northoff und Hans Brandt.

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