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  • Entwicklungspolitik & Agenda 2030
  • 06/2024
  • Zina Weisner

Neue Einblicke in Ursachen der Migration: So wichtig ist gute Regierungsführung

Die Ursachen der Migration sind vielfältig. Entwicklungspolitik, die dagegen hält, vernachlässigt Korruption als einen der wichtigsten Treiber. Denn Zukunftsvertrauen zählt.

Eine Straßenszene in Äthiopien. Das Land hat Programme für Rückkehrer und Wiedereingliederung von Migranten entwickelt. © Rod Waddington via Flickr

Sich um die „Grundursachen der Migration“ zu kümmern, ist für die Europäische Union (EU) und ihre Mitgliedstaaten zu einer zentralen Strategie bei der Steuerung von Migrationsbewegungen geworden. Sie beruht auf der weit verbreiteten Annahme, dass Armut, Konflikte und Umweltzerstörung die Hauptursachen für Migration und Vertreibung sind. Sie unterstellt dabei eine Win-Win-Situation: Die Verbesserung der Lebensbedingungen in den Herkunftsländern wird die Migrationsbestrebungen verringern und die irreguläre Migration reduzieren.

Eine der wichtigsten politischen Maßnahmen zur Verwirklichung dieses Ziels war der „European Union Emergency Trust Fund for stability and addressing root causes of irregular migration and displaced persons in Africa“ (EUTF). Dieser Schwerpunkt wurde erneut bekräftigt im „Instrument für Nachbarschaft, Entwicklung und internationale Zusammenarbeit - Globales Europa“, das 2021 angenommen wurde.

Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die Steuerung der Migration durch Entwicklungshilfe funktioniert, da die „Grundursachen“ nur einen Teil der Triebkräfte ausmachen und sogar widersprüchliche Auswirkungen auf die Migration haben. Was wissen wir über die politischen Narrative hinaus darüber, wie sich die Bedingungen in den Ländern des Globalen Südens tatsächlich auf die Migrationsprozesse auswirken? Und welche sind die wichtigsten, die im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit angegangen werden könnten?

Im Rahmen des von der EU finanzierten MIGNEX-Projekts wurden über 13.000 junge Erwachsene in 26 Gemeinden in Afrika, Asien und dem Nahen Osten zur lokalen Migrations- und Entwicklungsdynamik befragt. Die aus diesen umfangreichen Daten gewonnenen Erkenntnisse zeigen sowohl das Potenzial als auch die Grenzen der Politik zur Bekämpfung der Migrationsursachen. Sie zeigen auch, dass Korruption einer der wichtigsten Treiber für Migrationsbestrebungen ist.

Vielfältige Begriffe beschreiben die Ursachen der Migration

Zu verstehen, warum und unter welchen Umständen Menschen migrieren, ist eine der ältesten Fragen der Migrationsforschung. Eine der Herausforderungen bei der Erschließung der umfangreichen Literatur ist die vielfältige und uneinheitliche Terminologie: Begriffe wie „Treiber“, „Push-Faktoren“, „Determinanten“ und „Ursachen“ werden scheinbar austauschbar. Determinanten der Migration sind im Allgemeinen Faktoren, die die Migration vorhersagen, stellen aber keine spezifischen Ursachen der Migration dar (de Haas 2011). In den meisten Kontexten ist es beispielsweise wahrscheinlicher, dass Männer migrieren, aber männlich zu sein ist nicht die Ursache für Migration.

Genauer gesagt sind die Triebkräfte der Migration „Kräfte, die zum Beginn der Migration und zur Aufrechterhaltung der Bewegung führen“ (Van Hear et al. 2018). Dies zeigt, dass Migrationstreiber potenziell einen kausalen Einfluss auf Migration haben. Beispiele hierfür sind transnationale Netzwerke und Beschäftigungsmöglichkeiten am Zielort.

Grundlegende Migrationsursachen können eine sinnvolle Bezeichnung für einige Migrationsfaktoren sein, wenn es sich dabei um „weithin erfahrene Härten handelt, auf die Migration eine mögliche Reaktion darstellt und die als anhaltend, unmittelbar bedrohlich oder beides wahrgenommen werden“ (Hagen-Zanker und Carling 2023).

Diese Definition überspannt die problematische Grenze zwischen „erzwungener“ und „freiwilliger“ Migration und deckt verschiedene Formen von Härten ab, deren Bewältigung wichtig ist, um das Leben der Menschen zu verbessern, unabhängig von den Auswirkungen auf die Migration. Ob solche Härten zu einer Migration führen, hängt von einer Reihe anderer Betrachtungen ab, darunter Migrantennetzwerke und politisch gewollte Hindernisse und Möglichkeiten.

Warum der „Ursachenansatz“ fehlerhaft ist

Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass die Ursachen der Migration in einen schrittweisen Prozess aufgeteilt werden können, der mit der Bildung von Migrationsbestrebungen und deren anschließender Umsetzung in tatsächliche Migration beginnt. Mit anderen Worten: Die Menschen denken zunächst über eine Migration nach und versuchen dann, wenn sie auswandern wollen, dies auch zu tun – was ihnen gelingen kann, oder auch nicht. Auf diese Weise lässt sich besser verstehen, wie Migration funktioniert, insbesondere in einer Welt mit weit verbreiteten Mobilitätshindernissen.

Neben Grenz- und Einwanderungspolitiken kann auch die Armut ein solches Hindernis darstellen. Intuitiv würde man erwarten, dass ärmere Menschen eher auswandern wollen und dass es eine höhere Abwanderung aus ärmeren Gebieten gibt. In der Praxis spielt die Armut jedoch die gegenteilige Rolle. Bei Personen, die in ärmeren untersuchten Gebieten leben, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie eine Migration anstreben, um 48 Prozent geringer als bei Personen, die in besser gestellten Gebieten leben (Carling et al. 2024).

Eine Erklärung für dieses Muster ist, dass ärmere Menschen sich in ihren Wahlmöglichkeiten stärker eingeschränkt fühlen, so dass sie weniger wahrscheinlich eine Migration überhaupt in Betracht ziehen. Außerdem ist Migration oft ein kostspieliges Unterfangen, vor allem, wenn dabei internationale Grenzen überschritten werden müssen. Armut hat also nicht unbedingt einen Einfluss darauf, ob Menschen auswandern wollen, sondern ob sie es können.

Auch wenn die Armutsbekämpfung an sich wichtig ist, ist es unwahrscheinlich, dass sie sich unmittelbar auf die Migration auswirkt. Die Behebung anderer Ursachen – wie z.B. die aktuellen Lebensumstände oder ein Mangel an guter Arbeit – könnte effektiver sein, aber es dauert lange, bis sich die Bedingungen in den Herkunftsländern so weit verbessern, dass internationale Migration nicht mehr angestrebt wird (Vargas-Silva et al. 2023).

Kein „Einheitsmodell“: die Bedeutung des lokalen Kontexts

Weltweit beeinflussen nur wenige Faktoren den Wunsch zu migrieren auf die gleiche Weise. Während ein Faktor die Migrationsbestrebungen in einer Gemeinschaft erhöhen kann, kann er sie in einer anderen verringern. Das bedeutet, dass es sinnlos ist, davon auszugehen, dass bestimmte politische Maßnahmen in unterschiedlichen Kontexten umgesetzt werden können und zu den gleichen Ergebnissen führen.

Die Auswirkungen der Arbeitslosigkeit sind beispielsweise von Gemeinschaft zu Gemeinschaft unterschiedlich. In einigen, wie Kilis in der Türkei, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass Arbeitslose auswandern, während in anderen, wie Chot Dheeran in Pakistan, die Wahrscheinlichkeit dafür geringer ist. Das liegt daran, dass viele kontextbezogene Faktoren zusammenwirken und Migrationsprozesse gemeinsam beeinflussen. Oft spielen soziokulturelle Erwägungen eine größere Rolle als gemeinhin angenommen, wobei eine „Migrationskultur“ und transnationale Netzwerke die wichtigsten begünstigenden Faktoren sind (Czaika und Weisner 2023).

Außerdem spielen Wahrnehmungen eine große Rolle. Wer der Meinung sind, dass es schwierig ist, den Lebensunterhalt zu verdienen und eine Familie zu ernähren, oder dass es schwierig ist, einen guten Arbeitsplatz zu finden, hegt mit neun Prozent erhöhter Wahrscheinlichkeit Migrationsbestrebungen. Im Gegensatz dazu steht die tatsächliche Arbeitslosigkeit nur in einem schwachen Zusammenhang mit Migrationsbestrebungen (Carling et al. 2024). Dieses Ergebnis widerspricht den gängigen  Annahmen und den politischen Maßnahmen, die sehr die Notwendigkeit der Schaffung von Arbeitsplätzen  betonen.

Migrationsentscheidungen werden daher von der Einschätzung der aktuellen Lebensumstände und der Zukunftsaussichten beeinflusst. Selbst wenn es den Menschen schlecht geht, könnten sie durchhalten, wenn sie bessere Zeiten vor sich sehen. Umgekehrt kann ein Gefühl der „Zukunftslosigkeit“ zutiefst frustrierend sein und den Wunsch nach einem Kurswechsel hervorrufen (Anđić 2020). Die Reaktion auf aktuelle Unzufriedenheit kann verschiedene Formen annehmen, aber insbesondere das höhere Vertrauen in die Gesellschaft macht es wahrscheinlicher, dass Menschen versuchen, ihre Missstände vor Ort zu beseitigen, als dass sie abwandern wollen (Carling et al. 2023b).

Korruption als grundlegende Triebkraft der Migration

Unter den vielen Triebkräften der Migration sind Korruption und eine wahrgenommene schlechte Regierungsführung von bemerkenswerter Bedeutung, da sie zu verschiedenen Dimensionen der „Zukunftslosigkeit“ beitragen. Das liegt daran, dass Korruption in der Regel ein Symptom für tiefer liegende und weniger sichtbare institutionelle und gesellschaftliche Probleme ist. So kann Korruption in Krankenhäusern, Schulen und bei der Polizei ein Zeichen für niedrige Löhne, schlechtes Management und mangelnde Rechenschaftspflicht sein.

Korruption hat auch vielfältige und weitreichende Folgen. Erstens kann sie die Finanzen der Menschen direkt belasten, etwa wenn für nominell kostenlose Dienstleistungen Bestechungsgelder verlangt werden. Zweitens kann Korruption ein Hindernis sein, sich ein besseres Leben zu schaffen. In Redeyef beispielsweise, einer im Niedergang begriffenen Bergbaustadt in der tunesischen Wüste, versperrt ein hohes Maß an Korruption vielen qualifizierten jungen Menschen den Zugang zu den begehrtesten Arbeitsplätzen und trägt zu einem überwältigenden Gefühl der Hoffnungslosigkeit bei.

In den 26 MIGNEX-Forschungsgebieten ist die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen, die in Gemeinden leben, in denen die Zahlung von Bestechungsgeldern für eine Dienstleistung üblich ist, um 36 Prozent höher als in anderen Gebieten (Carling et al. 2023a). In ähnlicher Weise erklären Regierungsführung, die verfügbare öffentliche Dienstleistungen und das Vertrauen in Institutionen durchweg weit verbreitete Migrationsbestrebungen und hohe Abwanderungszahlen – und zwar stärker als Armut und Lebensbedingungen, Umweltbelastungen oder Unsicherheit und Konflikte (Czaika und Weisner 2023).

Migrationsentscheidungen werden daher von der Einschätzung der aktuellen Lebensumstände und der Zukunftsaussichten beeinflusst. Selbst wenn es den Menschen schlecht geht, könnten sie durchhalten, wenn sie bessere Zeiten vor sich sehen. Umgekehrt kann ein Gefühl der „Zukunftslosigkeit“ zutiefst frustrierend sein und den Wunsch nach einem Kurswechsel hervorrufen (Anđić 2020).

Daher hat Korruption indirekte Folgen, die für die Migration von Bedeutung sind. Wenn öffentliche Gelder zweckentfremdet werden oder persönliche Interessen die Entscheidungsfindung in Institutionen lenken, schadet dies der Entwicklung, macht Korruption aber nicht zu einer direkten Triebkraft für Migrationsbestrebungen. Wenn Korruption weitgehend verborgen bleibt und die Menschen die Auswirkungen beispielsweise in Form von verfallender Infrastruktur und minderwertigen öffentlichen Dienstleistungen zu spüren bekommen, dann sind es diese Mängel, die zur Migration führen.

Vor allem in Kontexten mit geringer oder mittlerer Armut zeigt die Rolle von Korruption und Misstrauen in Institutionen, wie stark Korruption den Glauben der Menschen an eine Zukunft vor Ort unterdrücken kann.

Entwicklungszusammenarbeit und Migrationskontrolle

Korruption ist ein wichtiger Migrationstreiber, da sie nicht nur ein Ärgernis und ein Hindernis für  Entwicklung ist, sondern oft ein tieferes Gefühl von gesellschaftlicher Dysfunktion und Hoffnungslosigkeit widerspiegelt. Daher ist es für die Entwicklungszusammenarbeit von entscheidender Bedeutung, mehr in Initiativen für gute Regierungsführung und die Stärkung der Zivilgesellschaft zu investieren, um örtliche Bedingungen zu verbessern und das Vertrauen der Menschen zu stärken, ihre Zukunft vor Ort zu gestalten.

Dennoch wurde nur ein kleiner Teil der EUTF-Mittel für Investitionen in Governance, öffentliche Dienstleistungen und Institutionen verwendet, während der Großteil in Projekte zur Grenzsicherung und Migrationssteuerung floss. Es hat sich aber gezeigt, dass diese Mittelvergabe schlechte Regierungsführung und Korruption noch verschärfen (Boersma et al., 2020). Die Zusammenarbeit mit Nicht-EU-Ländern beim Migrations- und Grenzmanagement kann sich daher kontraproduktiv auswirken, wenn sie autoritäre Regime unterstützt oder Menschenrechtsverletzungen nicht angegangen werden.

Entscheidend ist, dass die Migration von vielen Faktoren beeinflusst wird, wobei die „Grundursachen“, wie sie in den derzeitigen politischen Ansätzen verstanden werden, nur einen Teil der Triebkräfte der Migration ausmachen. Daher sollten sich Entwicklungsinitiativen weiter auf die Verringerung von Härten und die Verbesserung des Wohlergehens aller konzentrieren, also nicht nur derjenigen, die als potenzielle Migranten gelten (Weisner und Pope 2023). Letztlich wird Migration nicht nur durch Notlagen angetrieben, sondern auch durch den Wunsch nach Lernen, Erfahrung und persönlichem Wachstum, und kann daher an sich positive Auswirkungen auf die Entwicklung haben.

Zina Weisner Donau-Universität Krems

Quellen

Anđić T. (2020) Futurelessness, migration, or a lucky break: narrative tropes of the ‘blocked future’ among Serbian high school students. Journal of Youth Studies, 23(4):430-446.

Carling, J., Hagen-Zanker, J. and Weisner, Z. (2024) New insights on the causes of migration. MIGNEX Report. Oslo: Peace Research Institute Oslo. Available at mignex.org/d067.

Carling J., Caso N., Hagen-Zanker J., Rubio M. (2023a) The multi-level determination of migration processes. MIGNEX Background Paper. Oslo: Peace Research Institute Oslo. Available at mignex.org/d061.

Carling, J., Caso, N., Hagen-Zanker, J and Vagas-Silva, C. (2023b) Migration and alternative responses to dissatisfaction. MIGNEX Background Paper. Oslo: Peace Research Institute Oslo. Available at mignex.org/d062.

Czaika M., Weisner Z. (2023) A qualitative comparative analysis of the determination of migration processes. MIGNEX Background Paper. Oslo: Peace Research Institute Oslo. Available at mignex.org/d064.

de Haas H. (2011) The determinants of international migration: conceptualising policy, origin and destination effects. IMI Working Paper Series 32. Amsterdam: International Migration Institute. www.migrationinstitute.org/publications/wp-32-11.

Hagen-Zanker, J. and Carling, J. (2023) What are the ‘root causes’ of migration? MIGNEX Policy Brief. Oslo: Peace Research Institute Oslo. Available at mignex.org/d066a.

Van Hear N., Bakewell O., Long K. (2018) Push-pull plus: reconsidering the drivers of migration. Journal of Ethnic and Migration Studies 44:927–944.

Vargas-Silva C., Hagen-Zanker J., Carling J., Ignacio Carrasco J., Czaika M, Godin M., Bivand Erdal M. (2023) Tackling the root causes of migration. MIGNEX Background Paper. Oslo: Peace Research Institute Oslo. Available at mignex.org/d065.

Weisner Z. and Pope S. (2023) From development to deterrence? Migration spending under the EU Neighbourhood Development and International Cooperation Instrument (NDICI). Oxfam Briefing Paper. https://policy-practice.oxfam.org/resources/from-development-to-deterrence-migration-spending-under-the-eu-neighbourhood-de-621536/.

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