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  • Agrar- & Ernährungspolitik
  • 06/2020
  • Nick Jacobs
Schwerpunkt

COVID-19 zeigt Schwächen der Ernährungssysteme

Die Krise legt offen, wie anfällig der Zugang zu lebensnotwendigen Gütern ist. Sie kann aber auch neue Wege aufzeigen. Ein Kommentar.

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Kenianische Bäuerinnen verkaufen mit größerem Abstand. Offene Märkte funktionieren in Zeiten von Corona nur eingeschränkt. © World Bank / Sambrian Mbaabu

Die durch die Corona-Pandemie ausgelöste Gesundheitskrise hat nicht nur eine Wirtschaftskrise ausgelöst, sie verschärft rasch eine schwelende Krise der Ernährungssicherheit und -versorgung. Wir erleben, wie die zugrundeliegenden Risiken, die Fragilität und die Ungleichheiten in den globalen Ernährungssystemen aufgedeckt werden, und wie sie an den Rand des Zusammenbruchs geraten. Die durch Covid-19 ausgelösten Lockdowns führen auch vor Augen, wie fragil der Zugang der Menschen zu lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen ist. Die Krise zeigt, dass das Konzept der öffentichen Güter und der Menschen, denen sie zugute kommen – über Jahrzehnte unterbewertet und vernachlässigt wurde.

Eine Transformation des Ernährungssystems ist notwendiger denn je – eine Transformation, die die Widerstandsfähigkeit auf allen Ebenen stärkt. Das bedeutet, die Zerstörung von Lebensräumen zu verlangsamen, welche die Ausbreitung von Krankheiten vorantreibt. Es bedeutet, die Anfälligkeit für künftige Versorgungsschocks und Handelsunterbrechungen zu verringern. Und es bedeutet, die Menschen wieder mit der Erzeugung von Nahrungsmitteln zu verbinden und frische, nahrhafte Lebensmittel für alle zugänglich und erschwinglich zu machen.

Was lehrt uns Covid-19 ?

Die Covid-19-Krise wirft ein Schlaglicht auf die Verwundbarkeit von Ernährungssystemen in dreierlei Hinsicht.

Erstens treibt die industrielle Landwirtschaft den Verlust von Lebensraum voran und schafft die Voraussetzungen für das Entstehen und die Ausbreitung von Viren. Wie im CBD/WHO 2015-Bericht dokumentiert, wird die Verbreitung von Krankheitserregern durch den Klimawandel, die Zerstörung von Ökosystemen und Veränderungen von Landnutzung, durch Entwaldung, den Verlust an biologischer Vielfalt noch verschlimmert. Wesentliche Schutzbarrieren fallen. Die Effizienz des Welthandels hat einem immer einheitlicheren Landwirtschaftssystem den Weg bereitet und die Brandmauern der Artenvielfalt eingerissen.

Peru Regenwald Rodung
Rodungen von Regenwald für großflächige Palmölplantagen in Peru. © Rettet den Regenwald e.V.

Die zweite Verwundbarkeit betrifft die Versorgungsketten von Lebensmitteln.

Was sind Ernährungssysteme und wie müssen sie verändert werden?

Bei langen Wertschöpfungsketten, die von komplexen Strömen von Menschen, Produktionsmitteln und Nahrungsmitteln abhängen, haben Reiseverbote Millionen von Saisonarbeitern daran gehindert, wie jedes Jahr Grenzen zu überqueren, um auf Feldern und Farmen zu arbeiten. In einigen Teilen der Welt sind nicht geerntete Lebensmittel auf den Feldern verfault, während der Viehzuchtsektor mit einer Verknappung von Tierfutter und verminderten Schlachthofkapazitäten zu kämpfen hat. Schwachstellen sind derweil auch auf den weiteren Stufen der Kette aufgetreten. Plötzliche Nachfrageschübe forderten das "just in time"-Beschaffungsmodell heraus. Regale leerten sich, und insbesondere bei frischem Obst und Gemüse in den Industrieländern kam es zu einem Mangel an frischem Obst.

Kurze Lieferketten wurden anfällig, weil es zu  Schließungen und Beschränkungen auf informellen und offenen Märkten gekommen ist. Die Risiken hinsichtlich einer hohen Dichte von Menschen, der scheinbar aussichtslosen Durchsetzung von Hygiene und sozialer Distanz erschienen zu hoch. Gerade dieser Trend gibt Anlass zur Sorge, da "territoriale Märkte" nach wie vor das Rückgrat der Existenz und der Ernährung der meisten Menschen im globalen Süden darstellen. So haben zum Beispiel Marktabschottungen in ganz Afrika – einschließlich Burkina Faso, Ruanda, Senegal, Südafrika und Simbabwe – lebenswichtige Versorgungswege und Absatzmöglichkeiten für Bauern abgeschnitten.

Was die Beschäftigten des Ernährungssystems angeht, die ironischerweise in einer Reihe von Ländern inzwischen als  "unverzichtbar" gelten, so stehen diese bei der Schutzausrüstung nach wie vor am Ende der Versorgungskette und arbeiten oft ohne Gefahrenzulage. Insbesondere Wanderarbeiter sind einem hohen Risiko ausgesetzt, sich mit Covid-19 zu infizieren und das Virus  zu verbreiten

Poultry farmer, Nairobi
Hühnerzüchter in Kenia: Sie haben es mit Engpässen bei Tierfutter und weniger Nachfrage zu tun. © World Bank / Sambrian Mbaabu

Eine dritte große Schwachstelle der Ernährungssysteme zeigt sich, wenn hunderte Millionen Menschen einer weltweiten Rezession ausgesetzt sind.

Vor Covid-19 waren bereits 820 Millionen Menschen unterernährt, zwei Milliarden Menschen waren von Ernährungsunsicherheit betroffen. Viele weitere Millionen leben gefährlich nahe an der Armutsgrenze: Sie warden der wirtschaftlichen Mittel und physischen Möglichkeiten beraubt, sich Nahrungsmittel zu besorgen, wenn sie sich sozial isolieren müssen, ihre Bewegung eingeschränkt ist, Versorgungswege unterbrochen werden, Einkommen wegbrechen und Preise zugleich steigen, oder wenn Schulen schließen, und Kindern der Zugang zu Schulernährungsprogrammen versperrt wird.

Und in dem Maße, wie die Wirtschaft zum Stillstand kommt, spüren diejenigen, die bereits an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden, die Auswirkungen am härtesten. Weltweit sind Frauen und Mädchen anfälliger für wirtschaftliche Schocks und tragen die Hauptlast des Hungers in armen Familien. In Indien zum Beispiel sind 90 Prozent  der weiblichen Arbeitskräfte im informellen Sektor tätig und erleiden massive Einkommensverluste durch Corona. Zu den anfälligsten Gruppen gehören auch Landwirte. Mehr als 50 Prozent der Bauern und Landarbeiter leben in vielen Ländern des globalen Südens mit der größten Landbevölkerung unterhalb der Armutsgrenze.

Welche Grundlagen braucht ein neues Ernährungssystem?

Die vielfältigen Verwundbarkeiten machen deutlich, dass wir kurzsichtige Lösungen nach herkömmlichen Modellen vermeiden müssen. Jenseits von "Business-as-usual" hat IPES-Food vier Schritte identifiziert, die entscheidend dafür sind, auf allen Ebenen zu größerer Widerstandsfähigkeit beizutragen.

Empfehlung 1: Sofortmaßnahmen zum Schutz der Schwächsten

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass in dieser Krise der öffentlichen Gesundheit der Zugang zu Nahrungsmitteln und Ernährungssicherheit gewährleistet bleibt. Regierungen müssen dringend soziale Schutzschirme spannen und Programme zur Soforthilfe einführen oder verstärken, die die Schwächsten schützen: Säuglinge und Kinder, ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen und Menschen, die in Armut leben. Länder mit niedrigem Einkommen müssen in die Lage versetzt werden, dies zu leisten, ohne ihre öffentlichen Finanzen zu überlasten, und ohne Gelder von anderen dringenden Aufgaben wie dem Klimaschutz umzuwidmen. Schuldenerlasse – wie von der UNCTAD befürwortet – und andere Formen der internationalen Solidarität sind unerlässlich.

Ein Dorf in Malawi: Das Welternährungsprogramm verteilt Bargeld zur Überbrückung von Nahrungsmittelknappheit bis zur nächsten Ernte und erteilt Hygienetraining gegen Covid-19. © WFP / Badre Bahaji

Empfehlung 2: Aufbau belastbarer agrarökologischer Ernährungssysteme

Ein Paradigmenwechsel von der industriellen Landwirtschaft hin zu diversifizierten agrarökologischen Systemen ist dringender denn je. Die einzigartige Fähigkeit der Agrarökologie, die wirtschaftliche, ökologische und soziale Dimension der Nachhaltigkeit miteinander in Einklang zu bringen, wurde von der FAO, in wegweisenden Berichten des IPCC und des IPBES sowie von der Weltbank und dem von der FAO geleiteten Global Agriculture Assessment ("IAASTD") anerkannt.

Es sind bereits eine Reihe von Maßnahmen in Reichweite, die einen Übergang zu widerstandsfähigen agrarökologischen Ernährungssystemen auslösen können, darunter die Umlenkung von Agrarsubventionen und Forschungsinvestitionen in die Agrarökologie. Um sicherzustellen, dass örtliche Ketten funktionieren und florieren können, sind sofortige Maßnahmen erforderlich, einschließlich zur Stärkung der Kapazitäten für die Einhaltung von Vorschriften der Lebensmittelsicherheit sowie zur Beseitigung von Marktvorschriften, die örtliche Verkaufsmöglichkeiten behindern.

Empfehlung 3: neuer Pakt zwischen Staat und Gesellschaft

Was als Reaktion in der Krise begonnen hat, muss sich in neuen Grundlagen für staatliche Eingriffe verstetigen. Die politischen und wirtschaftlichen Systeme, die aus dieser Krise hervorgehen, müssen sich auf Entscheidungsfindungen auf mehreren Ebenen stützen, bei der  Regierungsführung die Zivilgesellschaft einbezieht, sozial und wirtschaftlich inklusiv handelt, Armutsfallen beseitigt, wirksame Regulierung erhält und auf langfristiges, systemisches Denken umstellt, damit wir neue Krisen besser bewältigen können. Die Ernährungssouveränität, die die demokratische Entscheidungsfindung im Ernährungssystem und den Zugang zu Land und zu Ressourcen der Nahrungsmittelproduktion in den Vordergrund stellt, muss ein Leitprinzip sein.

Es werden gerade Milliardensummen durch Rettungspakete, Konjunkturstützen und Anleiheprogramme in die Wirtschaft gesteckt. Es darf nicht die Gelegenheit  verpasst werden, diese Mittel in die Umgestaltung der Wirtschaft zu investieren, statt sie einfach nur herauszupauken.

Empfehlung 4: Umsteuerung internationaler Ernährungssysteme

Die Krise bietet auch die perfekte Gelegenheit, den Welternährungsgipfel 2021 neu zu überdenken. Er sollte auf die Säulen der Widerstandsfähigkeit und Agrarökologie bauen, und zwar auf der Grundlage der demokratischen Debatte im UN-Ausschuss für Welternährungssicherheit (CFS), der ebenfalls gestärkt werden muss. Die Diskussionen zur Vorbereitung des Gipfels sollten für eine breite Beteiligung geöffnet werden, statt zwischen geschlossenen Gruppen einen Konsens zu finden. Da bereits der Klimagipfel (COP26) und die UN-Konferenzen zur biologischen Vielfalt verschoben warden und an Dringlichkeit verlieren, muss die Zivilgesellschaft um so wacher sein. Es gilt zu verhindern, dass Deals in Hinterzimmern durchgedrückt werden – und es geht um positive Schritte. Die Vereinnahmung durch Unternehmen muss heute mehr denn je vermieden werden.

Nick Jacobs, Director of IPES-Food.
Nick Jacobs International Panel of Experts on Sustainable Food Systems (IPES-Food)

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